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16.07.2024, 05:07 Uhr

Gesellschaft

Die Mär vom ungebremst wachsenden Deutschen Sozialstaat

  • 13.06.2024
  • Aktuelles

Aktuelle öffentliche Debatten vermitteln häufig den Eindruck, in Deutschland seien die Sozialausgaben in den vergangenen Jahren explodiert und der Staat über alle Maße aufgebläht worden. Ein genauer Blick auf die Statistiken – auch im internationalen Vergleich – zeigt: Dieser Eindruck ist von Fakten nicht gedeckt.

Ein genauer Blick auf die Statistiken schafft Klarheit.

Vertreter*innen der These eines übergriffig wachsenden (Sozial-)staates weisen darauf hin, dass die Ausgaben immer neue „Rekorde“ erreichen. Ein Problem mit diesem Argument ist, dass Rekorde bei nominalen Geldbeträgen nicht viel aussagen. Preise und Einkommen steigen jedes Jahr, sodass immer neue „Rekorde“ bei Einnahmen und Ausgaben ganz normal sind. Wenn etwa die Einkommen der Beschäftigten zulegen, ist es ganz normal, dass auch etwa die Rentenzahlungen zulegen – denn diese sollen ja einen gewissen Anteil der Einkommen absichern.  

Relevant für die Analyse, ob der Staat wirklich übermäßig wächst, wäre deshalb das preisbereinigte Wachstum, das Wachstum relativ zur Wirtschaftsleistung oder relativ zu den Ausgaben in anderen, vergleichbaren Staaten.

Im Vergleich mit anderen Industrieländern zeigt sich, dass das Wachstum der realen öffentlichen Sozialausgaben in Deutschland in den vergangenen 20 Jahre unauffällig ist – im Vergleich zu anderen OECD-Ländern sind die Sozial-ausgaben hierzulande besonders schwach gewachsen (Abbildung 1).

Denkbar wäre natürlich, dass Deutschland schon vor 20 Jahren einen im internationalen Vergleich aufgeblähten Sozialstaat hatte und deshalb trotz schwachen Ausgabenwachstums heute einen übergroßen Sozialstaat aufweist. Doch auch beim Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung ist Deutschland im Vergleich der reichen OECD-Länder unauffällig (Abbildung 2).

Zwar gibt auf den ersten Blick der Staat in der Schweiz, den Niederlanden und den USA spürbar weniger für den Sozialstaat aus, aber diese Zahlen sind ein statistisches Artefakt: In den drei Ländern ist eine private Krankenversicherung weitgehend verpflichtend. Dabei herrscht nicht freier Markt oder starker Wettbewerb zwischen den Versicherungen, nur die Organisationsform ist privat.
 
Ob man verpflichtend in einer gesetzlichen Krankenkasse oder verpflichtend in einer Privatversicherung versichert ist, macht gesamtwirtschaftlich (und auch für den Einzelnen) keinen Unterschied.  

Nimmt man öffentliche und vom Staat vorgeschriebene und freiwillige Ausgaben für Soziales zusammen (auch in Deutschland gibt es ja private Krankenversicherungen), so liegen die USA, die Niederlande und die Schweiz nicht weit weg von Deutschland (Abbildung 3).

Auch bei der Staatsquote, also den gesamten staatlichen Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben, ist im westeuropäischen Vergleich bis 2023 keine Auffälligkeit für Deutschland festzustellen (Abbildung 4).

Im Zeitverlauf gibt es bei der Staatsquote ebenfalls keine Auffälligkeiten, wenn man andere Länder zum Vergleich heranzieht (Abbildung 5). Vom Niveau her waren die Staatsausgaben 2023 leicht erhöht – aber das lässt sich dadurch erklären, dass die öffentlichen Haushalte 2023 immer noch durch die Hilfspakete im Zuge der Energiepreiskrise nach der russischen Invasion in der Ukraine und durch Unterstützung der Ukraine und der Geflüchteten belastet waren.

Gerne wird auch darauf hingewiesen, dass die öffentliche Beschäftigung in Deutschland spürbar gestiegen sei. Zum Teil wird dabei sogar behauptet, der Staat nehme den Unternehmen die Beschäftigten weg. Tatsächlich sind in einzelnen Bereichen des öffentlichen Dienstes heute mehr Menschen beschäftigt als vor 15 Jahren. Allerdings muss man beachten, dass die Bevölkerung (und auch Gesamtbeschäftigung) in Deutschland in den vergangenen Jahren spürbar gewachsen ist. Und mehr Bevölkerung bedeutet natürlich, dass man mehr Lehrer*innen, mehr Polizist*innen und mehr Personal in den Meldeämtern braucht.

Betrachtet man die Zahlen der OECD zur Beschäftigung des öffentlichen Sektors, so sieht man, dass zumindest bis 2019 (neuere Zahlen sind leider noch nicht verfügbar) der Anteil öffentlicher Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland im Trend sogar gefallen ist (Abbildung 6). Auch hier ist von einem Aufblähen nichts zu sehen.  

Im internationalen Vergleich ist der Anteil öffentlicher Beschäftigung in Deutschland ebenfalls nicht besonders hoch – wobei man hier einräumen muss, dass wegen der unterschiedlichen Organisation etwa des Gesundheitssystems das Niveau zwischen Ländern nur begrenzt vergleichbar ist.

Ein Blick auf die Entwicklung der staatlichen Arbeitnehmerentgelte in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die nun bis 2023 vorliegen, zeigt relativ zum Bruttoinlandsprodukt auch keine besondere Dynamik (Abbildung 7). Nach einem Rückgang in den 1990er Jahren ist die Quote seit über einem Jahrzehnt sehr stabil. Die Anstiege 2009 und 2020 sind jeweils auf den krisenbedingten Rückgang des nominalen Bruttoinlandsprodukts zurück-zuführen und haben sich schnell wieder normalisiert.  


Quelle: Sebastian Dullien, Katja Rietzler: IMK Kommentar vom Februar 2024, Nr. 11. Lesehinweis: Die im Text erwähnten Abbildungen sind in dem zur Verfügung gestellten Download enthalten.


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